Von Nicole Prestle
Zehn Jahre nach der Eröffnung des Ellinor-Holland-Hauses im Augsburger Textilviertel hat die Stiftung „Kartei der Not“ den Entschluss für ein zweites Wohnprojekt gefasst: In direkter Nachbarschaft zur bestehenden Einrichtung soll bis 2030 ein Gebäude mit etwa 35 Wohnungen entstehen. Das Angebot richtet sich an Menschen in sozialer oder gesundheitlicher Notlage, die sich auf dem regulären Wohnungsmarkt bei der Suche schwer tun. Auch wenn das Projekt ähnlich ausgerichtet sein wird wie das Ellinor-Holland-Haus, gibt es einige wesentliche Unterschiede.
Seit 60 Jahren unterstützt die Stiftung „Kartei der Not“ Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind. Und wenn es in dieser Zeit eine Konstante gab, dann diese: Das Leben kann sich oft von einem Tag auf den anderen verändern. Krankheiten, Unfälle, der Verlust eines geliebten Menschen können die Betroffenen so aus der Bahn werfen, dass sie ihren Alltag nicht mehr alleine meistern können. Oft hilft schon ein kleiner finanzieller Beitrag, um ein Problem zu lösen – manchmal sind die Herausforderungen aber auch größer. Zum Beispiel, wenn man bezahlbaren Wohnraum sucht.
Das Kuratorium der Kartei der Not entschloss sich vor über zehn Jahren deshalb, das Lebenswerk von Stifterin Ellinor Holland auf eine neue Ebene zu heben: Mit dem Ellinor-Holland-Haus entstand eine Wohneinrichtung, in der Menschen in Notlagen eine vorübergehende Heimat finden, bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen können. Die Wohndauer im Haus ist auf drei Jahre begrenzt. In dieser Zeit unterstützen Fachkräfte die Bewohner unter anderem in Fragen von Aus- und Fortbildung, staatlicher Hilfe und bei anderen drängenden Themen. Doch selbst wer danach wieder Fuß gefasst hat, hat es oft schwer, auf dem angespannten Augsburger Wohnungsmarkt unterzukommen. Hier setzt das neue Projekt an.
Entstehen wird es auf einem Grundstück an der Otto-Lindenmeyer-Straße, das an das Gelände des Ellinor-Holland-Hauses angrenzt und bereits im Besitz der Stiftung ist. Geplant ist ein Bau mit 35 barrierearmen Wohnungen mit einer Größe von 40 bis 90 Quadratmetern. Angeboten werden Ein- bis Vier-Zimmer-Wohnungen, die Mieten werden laut Oliver Jaschek, Geschäftsführer der Stiftung, unter dem Satz liegen, den das Jobcenter als Obergrenze festlegt. „So garantieren wir, dass unsere Bewohner sich die Miete auch leisten können.“ Im Gegensatz zum Ellinor-Holland-Haus werden die Mietverhältnisse im neuen Gebäude nicht befristet.
Begleitet wird das Angebot durch eine sozialpädagogische Fachkraft, die in Vollzeit im Haus arbeiten wird. Bewohner können das Angebot einer Beratung bei Bedarf annehmen, sind aber - anders als im Ellinor-Holland-Haus - nicht dazu verpflichtet. „Unsere Wohnungen sollen Menschen in sozialer oder gesundheitlicher Notlage nicht nur Schutz bieten, sondern auch Orientierung, Würde und eine Perspektive“, betont Jaschek. Die Bewohner sollen miteinander in Kontakt kommen, wodurch auch einer Vereinsamung vorgebeugt werde.
Finanziert wird das gut 13 Millionen Euro teure Projekt aus dem Stiftungsvermögen. Die Kartei der Not möchte laut Jaschek im Rahmen einer Mehrfachausschreibung auf ausgewählte Architekturbüros zugehen. Ein Preisgericht wird dann darüber entscheiden, welcher Entwurf umgesetzt wird. Kriterien sind unter anderem Barrierefreiheit, Nachhaltigkeit in Bezug auf die Baumaterialien sowie ausreichend Freiflächen für Kinder, da später erwartungsgemäß auch viele Familien im Haus wohnen werden.
„Unserer Mutter Ellinor Holland war es immer wichtig, viele Menschen in der Region zu unterstützen und in ihrer Not beizustehen“, sagt Ellinor Scherer, Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung „Kartei der Not“. Trotz der hohen Investition in einen Neubau bleibt die unbürokratische und schnelle Hilfe in Einzelfällen ein wichtiges Standbein der Stiftungsarbeit. „Mit dem Schaffen von neuem Wohnraum ergänzen wir neben den Einzelfallhilfen, den Projekthilfen sowie dem befristeten Wohnen im Ellinor-Holland-Haus unser Angebot und übernehmen gesellschaftliche Verantwortung für bedürftige Menschen und deren Familien in Augsburg und Umgebung“, so Ellinor Scherer.
Die Ausschreibung soll im kommenden Jahr erfolgen, Baubeginn könnte 2027 sein. Geplant ist, dass die ersten Bewohner ab dem Jahr 2029 oder 2030 im Textilviertel einziehen können. Die Spenden, die die Arbeit der Kartei der Not ermöglichen, kommen von Firmen, Vereinen und Einzelpersonen aus dem Verbreitungsgebiet der Augsburger Allgemeinen und ihrer Heimatzeitungen. Im Jahr 2024 flossen laut Jaschek sechs Millionen an Spenden, 5,9 Millionen wurden direkt an Bedürftige aus der Region weitergegeben. In den 60 Jahren seit ihrem Bestehen hat die Stiftung rund 53 Millionen an unverschuldet in Not geratene Menschen ausgezahlt, jedes Jahr hilft sie rund 3400 Familien und Einzelpersonen.