Samira liebt es zu lernen. „Ich gehe sehr gerne zur Schule“, betont die Siebenjährige, die sich an diesem Tag extra chic gemacht hat und nicht nur glitzernde Seesterne in ihr dunkles Haar geklemmt, sondern auch ein rotes Dirndl gewählt hat. Schließlich will sie allen zeigen, dass sie sich auf die neue Schule in Langweid freut. Denn nach Langweid im Landkreis Augsburg gelange sie von Aichach aus, wo sie wohnt, schneller als nach Königsbrunn, wo sie jetzt zur Schule geht, erzählt sie. Und die Fahrzeit ist für sie wichtig, muss sie doch liegend zur Schule transportiert werden. Auch den Unterricht verfolgt sie meist liegend, sitzen kann sie nur für kurze Zeit. Das Mädchen leidet seit seiner Geburt an spinaler Muskelatrophie, einer durch einen Gendefekt verursachten Nerven- und Muskelschwäche, für die es bisher keine Heilung gibt.
Samira gehört zu den 350 Kindern, die in der Fritz-Felsenstein-Schule in Königsbrunn, einer Einrichtung für körperbehinderte, aber auch für mehrfach körperlich und geistig beeinträchtigte Kinder und Jugendliche, nicht nur lernen, sondern auch mit umfangreichen Therapien in ihrer Entwicklung gefördert werden. Doch die Schule hat seit Jahren ein massives Platzproblem. Denn die Zahl der Schüler steige, sagt Gregor Beck, der Vorstandsvorsitzende des Fritz-Felsenstein-Hauses, kurz FFH. „Pro Schuljahr haben wir im Schnitt eine Klasse mehr.“
Es sind Kinder und junge Leute, die mehrheitlich infolge von Sauerstoffmangel bei der Geburt, aber auch schwerer Erkrankungen oder Unfällen mit teils erheblichen körperlichen und/oder geistigen Einschränkungen ihr Leben meistern müssen. „Und dank des medizinischen Fortschritts steigen auch die Überlebenschancen mit schwersten Beeinträchtigungen“, erklärt Beck, der seit Langem auf der Suche nach einem Platz ist, wo das FFH eine weitere Filiale errichten kann, zumal die Einrichtung einen staatlichen Versorgungsauftrag zu erfüllen hat „und Schwaben diese Außenstelle wirklich braucht“. Schließlich kommen die Kinder bis von Donauwörth im Norden oder von Mindelheim im Süden nach Königsbrunn.
In Langweid wurde Beck nun fündig. Dort entsteht, wie er nicht ohne Stolz zusammen mit Langweids Bürgermeister Jürgen Gilg berichtet, „ein für Bayern ganz außergewöhnlicher Lerncampus“. Denn auf einem Gelände von circa 24.700 Quadratmetern wird in unmittelbarer Nachbarschaft sowohl die neue Grund- und Mittelschule für Langweid gebaut als auch ein neues Fritz-Felsenstein-Haus. Damit komme es endlich zu den für die Kinder so entscheidenden „ungeplanten Begegnungen“ zwischen Heranwachsenden mit und ohne Handicap. Klassenpatenschaften, gegenseitige Besuche und vor allem gemeinsames Spielen auf dem inklusiven Spielplatz seien so möglich, erzählt Schulleiter Christian Reckerth, für den die Partnerschaft mit dem FFH gerade auch deswegen so gut passt, weil sich seine Schule offiziell „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ nennen darf, erzählt er: „Bei uns zählt nicht, wie jemand aussieht, welche Hautfarbe er hat, wie er spricht, bei uns zählt der Mensch.“ Außerdem hätten gerade Kinder keine Vorurteile im Umgang mit beeinträchtigten Menschen. Sie seien oft neugierig, fragten sehr direkt nach, warum jemand beispielsweise im Rollstuhl sitzt, nähmen dann den anderen aber an, wie er eben ist.
Und auch im Gemeinderat in Langweid sei man von Anfang an von der besonderen Lernpartnerschaft überzeugt gewesen, berichtet Gilg. Er selbst war ohnehin begeistert. Gilg hat eine 14-jährige Tochter, die körperlich und geistig beeinträchtigt ist. Rebecca besucht aber nicht die Fritz-Felsenstein-Schule. Dennoch weiß gerade er um den Wert des ungezwungenen Umgangs, der Freundschaften zwischen Kindern mit und ohne Handicap.
Um diesen Lerncampus zu realisieren, wird viel Geld investiert: Allein die neue Langweider Schule kostet etwa 33 Millionen Euro, das FFH-Projekt rund 65 Millionen. Für die Fördereinrichtung gibt der Freistaat circa 56 Millionen Euro, der Bezirk eine Dreiviertelmillion. Den Rest muss der Trägerverein des FFH selbst stemmen. „Ohne Spenden geht das nicht“, erklärt Beck und freut sich, dass das Leserhilfswerk unserer Zeitung, die Kartei der Not, das immer wieder das FFH finanziell unterstützt, auch diesmal zu den großen Sponsoren zählt. Ellinor Scherer, die Vorsitzende des Kuratoriums der Kartei der Not, gefiel die Idee, dass in Langweid Kinder mit und ohne Behinderung Tür an Tür lernen, gefördert werden und gemeinsam spielen können, von Beginn an sehr gut: „Zum einen ist es mir ein besonderes Herzensanliegen, dass Kinder mit einem Handicap, die es ohnehin schon schwerer im Leben haben, so gut wie nur möglich gefördert werden. Zum anderen finde ich aber auch, dass das Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gestärkt werden soll.“ Alexandra Holland, die stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums, freut sich ebenfalls sehr über das Projekt: „Wie gut, dass das Fritz-Felsenstein-Haus damit endlich mehr Platz bekommt und Kinder gerade aus dem Norden von Augsburg nicht mehr so weit in ihre Schule fahren müssen.“
Spenden seien vor allem so entscheidend, erklärt Beck, „weil es keine öffentliche Finanzierung von großen Teilen des Baus und der Ausstattung für Heilpädagogik und Therapie gibt“. Doch für Kinder wie Samira sei es überlebenswichtig, ganz individuell beispielsweise mit ergotherapeutischen, physiotherapeutischen oder logopädischen Therapien unterstützt zu werden. Und nicht nur sie freut sich auf die neue Schule, auch Justus und Marius sind gekommen, um zu erzählen, wie wichtig ihnen das neue FFH ist. Schließlich wohnt Justus in Gablingen und sein Freund Marius in Nordendorf. Für beide verkürzt sich ihr Schulweg, wenn das Fritz-Felsenstein-Haus zum Schuljahr 2025/26 starten kann, wie für Samira ganz erheblich.
Weitere Informationen zum Fritz-Felsenstein-Haus im Internet unter www.felsenstein.org.
Text: Daniela Hungbaur
Bild: Marcus Merk