Von Daniela Hungbaur
Unbeschreiblich schwer lastete etwas auf ihr. So beginnt die zierliche Frau zu erzählen. Ihre Hand wandert bei diesen Worten wie automatisch nach oben, bleibt als Faust geballt auf ihrer Herzgegend liegen. Aussichtslos erschien ihr ihre Lage. Krebs hat sie. Seit fünf Jahren. Mehrfach wurde sie operiert, zwei Chemotherapien hat sie überstanden. Längst ist es nicht nur ihr Körper, der von der Krankheit geschwächt ist, sondern auch ihre Seele. Depressionen plagen sie. Wenn sie von ihrem Leidensweg spricht, sinkt sie auf ihrem Stuhl regelrecht zusammen. Wird noch schmäler, als sie ohnehin schon ist. Schnell kristallisiert sich im Gespräch heraus, dass die Mittfünfzigerin nicht nur um ihr eigenes Leben bangt. Es ist auch die Zukunft ihrer Tochter, die ihr Sorge bereitet. Große Sorge. Kurz vor ihrer Volljährigkeit steht diese. Immer wieder musste sie sich in psychiatrische Behandlung begeben. Zu gewaltig trägt sie an den Ängsten um ihre Mutter. Beide – Mutter und Tochter – leben nun, für bis zu drei Jahre, im Ellinor-Holland-Haus.
Ein ganz besonderes Haus. Ein Haus, das schon von außen sichtbar macht, um was es im Inneren geht: „Weiter helfen“ steht in roter Schrift auf weißer Fassade. Etwa 80 Menschen aller Altersklassen kann dort im Augsburger Textilviertel geholfen werden. Es sind Menschen, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden. Menschen, die Krisen zu bewältigen haben. Menschen, die wie die Mittfünfzigerin schwer krank sind, mit ihren Kindern allein dastehen, Kraft schöpfen, sich neu ausrichten müssen und auch wollen. Es ist keine dauerhafte Bleibe. Aber ein Zuhause auf Zeit. Errichtet wurde das Ellinor-Holland-Haus von der Kartei der Not, dem Leserhilfswerk unserer Zeitung. 2016 konnten die ersten Bewohner einziehen. Die Stiftung selbst ist schon sehr viel länger aktiv, engagiert sich seit 55 Jahren im Kampf gegen Armut und greift vor allem Menschen unter die Arme, die in unserer Region unverschuldet in große Not geraten sind. 1965 hat Ellinor Holland, die Journalistin und Tochter des Zeitungsgründers Curt Frenzel, die Kartei der Not gegründet. Ihre beiden Töchter Ellinor Scherer und Alexandra Holland setzen heute das Lebenswerk ihrer verstorbenen Mutter mit großem Einsatz fort. „Menschen, die aufgrund eines persönlichen Schicksalsschlages finanzielle Unterstützung brauchen, können sich an eine Beratungsstelle bei sich vor Ort wenden, um dort einen Antrag an die Kartei der Not zu stellen“, erklärt Ellinor Scherer. Unbürokratisch und schnell wird er beantwortet. Doch nicht nur Einzelanträge nimmt die Stiftung an. „Auch soziale Projekte im ganzen Verbreitungsgebiet der Augsburger Allgemeinen und ihrer Heimatausgaben sowie der Allgäuer Zeitung werden von der Kartei der Not gefördert“, sagt Alexandra Holland und ergänzt: „Ein Engagement, das wir künftig noch ausbauen wollen.“
Und die Kartei der Not hat ein eigenes, großes soziales Projekt ins Leben gerufen: das Ellinor-Holland-Haus. Mit der Eröffnung wurde ein Herzenswunsch der Stiftungsgründerin wahr. „Denn unsere Mutter wusste genau, dass es viele Menschen gibt, die so schwer vom Schicksal gebeutelt werden, dass Geld allein nicht reicht, damit sie wieder auf eigenen Füßen stehen können“, erzählt Ellinor Scherer. Was diese Menschen brauchen, ist ein geschützter Raum. Ruhe. Respekt. Und pädagogische Betreuung. Das alles bietet das Ellinor-Holland-Haus mit seinen 28 Wohnungen, zu dem auch eine Kindertagesstätte und ein Tante-Emma-Laden mit Café gehören. Längst sind die ersten Bewohner schon wieder ausgezogen. Sie haben sich im Ellinor-Holland-Haus körperlich, psychisch, aber auch finanziell stabilisiert, haben neue Berufswege eingeschlagen, neue soziale Kontakte geknüpft und vor allem ein neues Selbstwertgefühl entwickelt.
Die vielen menschlichen Erfolgsgeschichten des Hauses ermöglichte vor allem das pädagogische Team, das unentbehrliche Herzstück des Hauses. Bei Susanne Weinreich, Barbara Hassler und Julia Helfer finden die Bewohner stets ein offenes Ohr, dürfen mit allen Anliegen und Nöten kommen. Auch das ehrenamtlich Team wird sehr geschätzt und gerade bei beruflichen oder sprachlichen Problemen gerne aufgesucht. Auch an diesem kühlen Herbstvormittag steht eine Bewohnerin sichtlich verzweifelt mit einem Antrag vor dem Büro von Susanne Weinreich. Bei allen pädagogischen Mitarbeitern des Hauses ist die tiefe Empathie, das Wohlwollen für die Bewohner zu spüren. Hier wollen Menschen anderen wirklich helfen – vorausgesetzt, der andere macht auch mit. Schließlich haben sich alle Bewohner verpflichtet, an sich zu arbeiten, haben sich alle klare Ziele gesetzt. Ein Ziel sind auch angemessene Umgangsformen, erklärt Susanne Weinreich. Bewährte Tugenden wie Anstand, Höflichkeit, gegenseitige Wertschätzung sind im Ellinor-Holland-Haus nicht nur schöne Worte, sie werden dort gelebt: „Unser Haus hat einen eigenen Geist“, betont die pädagogische Leiterin des Hauses. Alle Bewohner eint, dass sie Schlimmes erlebt haben. Alle Bewohner eint, dass sie wieder ein selbstständiges Leben führen möchten. Alle Bewohner eint aber auch, dass sie sich auf eine Gemeinschaft eingelassen haben, in der nicht nur ihnen geholfen wird, sondern in der sie auch anderen helfen.
Für das junge Ehepaar, das in unmittelbarer Nachbarschaft der krebskranken, alleinerziehenden Mutter mit ihrer Tochter lebt, ein Lebensleitspruch. Beide sind zutiefst christlich. „Dieses Haus hier ist für uns ein Geschenk Gottes“, sagt er. Seine Frau sitzt neben ihm, lächelt und nickt. Lichtdurchflutet ist ihre Drei-Zimmer-Wohnung und ausgesprochen gemütlich eingerichtet. Hier liebt jemand Farben. So stolzieren Flamingos auf einem Gemälde an der Wand, ein knallbunter Hirsch ziert einen kleinen Teppich. Und immer wieder strahlt einen ein fröhlicher Bub von vielen Fotos an. Wo er gerade ist? „Im Ellinor-Holland-Kinderhaus nebenan“, erzählt seine Mutter und lobt gleich die Betreuung, die für sie und ihren Mann so wichtig ist, um ihre Ausbildungen gut zu meistern. Ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. Sind sie doch gerade erfolgreich dabei, sich ein gutes Leben aufzubauen. Beide stehen vor dem Abschluss ihrer Berufsausbildungen. Zu viel würden sie riskieren. Schließlich gehen die meisten Türen gleich wieder zu, wenn sie den Lebenslauf der beiden lesen. Doch sollte man ihnen wirklich keine Chance mehr geben? Wo sie es doch geschafft haben, nicht in die Sucht abzustürzen. Wo sie es doch geschafft haben, ihre Schulden in Ordnung zu bringen. Wo sie doch vor allem ihrem kleinen Kind ein Zuhause bieten möchten. Wie schwer ihr Lebenslauf wiegt, spüren sie nun wieder, wo sie so dringend eine Wohnung suchen – und keine finden.
Diesen Schritt hat ihre kranke Nachbarin noch vor sich. Doch zunächst steht das Wohlergehen ihrer Tochter im Zentrum aller Bemühungen. Die junge Frau muss selbstsicherer werden, mutiger, stärker. Ihre Mutter hat sich im Ellinor-Holland-Haus schon etwas erholt. „Hier in diesem Haus fühle ich mich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder frei – und so leicht wie ein Schmetterling“, sagt sie und unterstreicht ihre Worte wie so oft mit ihren Händen: Die rechte Hand wandert nach oben, ihre Finger beginnen zu tanzen.